Mittwoch, 5. Februar 2014

FLANIEREN
Er spaziert auf und ab. ›Es flaniert‹, nennen es die kleinen Jungen mit ihren weißen Stimmen. Sie sind noch zu jung, um ›flaniert‹ zu werden. Ihnen macht der gutgekleidete Mann in Schwarz noch keine richtige Angst. Zu unschuldig sind sie, um sich vorzustellen, woher jeweils das Fleisch kommt, das der Mann ihren Familien bei seinen Besuchen am Arm ihrer älteren Brüder mitbringt. Sowieso, die Familien sind arm. Und arm heißt hier auch: krank. Also erwähnen die älteren Brüder den jüngeren gegenüber nie, wie da eine tiefe Fleischwunde doch schmerzen kann, auch wenn nur ein Pfund herausgeschnitten worden ist.
Die ›Furche‹: Seine Welt dreht sich um diesen Begriff. Er mag es, die Buben nach seinem ›Kauf‹ eine ganze Nacht an den Hafenanlagen entlang spazieren zu führen. Bis es dunkel wird. Und sie ihm zu den Tieren der Nacht werden, schön, gestählt. Während sie der Schlucht der Macht, der eigenen ›Furche‹, bereits nicht mehr entkommen können.
Ist es Macht? Will er, dass sie nicht mehr schön sind?
Den ganzen Abend und die Nacht redet er nur mit ihnen, zahlt ihnen in den Cafés und Bars das Essen und Trinken. Erst am zweiten Tag, nach einer langen Nacht, heißt er sie, das Versprechen einlösen, das sie angesichts des Geldes gemacht haben. Dazu hat er starke Reißer. Sie halten die Knaben fest, während der Chirurg Hand anlegt.
Sie verbluten nie. Sogar gehen können sie danach wieder. Bei vielen wächst das Fleisch ein bisschen zu. Es ist nur etwas unschön, schmerzt auch hin und wieder. Aber die Familie lebt, die Familie hat zu essen. Und selbst der Pfarrer schützt den gnädigen Herrn, er spricht von der Geburt aus dem Schmerz, verweist auf die Genesis. Auch ihm ist nicht ganz klar, warum der gnädige Herr das tut.
Der erwähnt manchmal die ›schlimmen Gedanken‹, die ihn überwältigen kommen, falls er nicht wieder und wieder flaniere. Und er wolle nicht den großen Schmerz verpassen, den Gott einigen Menschen vermache und den zu sehen auf einem fremden Gesicht großes Glück verheiße.
Vielleicht deswegen greift er auch zum Mittel der ›Nabelschnur‹: Er bindet beim Chirurgen jeweils einen Faden um seine eigene Hüfte und um die Hüfte des Knaben. Im Moment, wenn das Skalpell invadiert, die Hüfte sich bäumend hochzischt, zieht es ihn wie magisch an. Und in Zuckungen wird der Kontakt wieder locker.
Einmal wollte jemand vom Chirurgen hören, ob das denn rechtmäßig sei, was er da tue: Der verwies darauf, dass im Recht höchstens die Sterne seien. Denn kein Mensch könne sie ernten. Hier jedoch gehe, was eben gehe.
Doch kurz darauf geschah etwas Sonderbares. Der sich die Zeit vertreibende Mann blieb eines Abends aus. Und den nächsten. Und den übernächsten. Und den wieder nächsten. Einige glaubten, die Nabelschnur habe ihm sein Herz eingerissen. Andere meinten, er sei wohl weggezogen. Einer meinte zu wissen, dass er nie mehr schlimme Gedanken haben müsse. Schließlich sagten einige, dass derart stark gesalzenes Fleisch den Magen verderbe und dies wiederum wichtige Lebensnerven.
Vielleicht war es auch nur seine Leber. Er trank gerne Wein.

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